"Ich kenne alle diese Menschen,
deswegen habe ich auch keine Angst vor ihnen,
egal ob die schimpfen oder schreien.“
Was für Fremde ein ungewohnter Anblick ist, ist für Bahnhofviertel-Kenner ganz normal: Vor der Münchener-Straße 32 tummeln sich um die 20 bis 40 Menschen, mit Bier und Zigarette in der Hand lassen sie den Feierabend ausklingen. Unter der Gruppe befinden sich Hipster, Banker, Touristen, Bauarbeiter, Studenten und auch Junkies. Eine bunt durchmischte und ungewöhnliche Formation von Leuten, die alle aus demselben Grund hier sind: Dem Kult Kiosk „Yok-Yok“.
Erfinder des Kioskes der besonderen Art ist Nazim Alemdar. Bereits 1978 ist der 62-Jährige von der türkischen Stadt Ankara nach Deutschland gekommen:“Seitdem bin ich im Bahnhofsviertel, mal als Geschäftsinhaber, mal als Mitarbeiter, aber immer im Bahnhofsviertel.“ Am Anfang betrieb Alemdar in der Münchener-Straße 32 eine Videothek. Nachdem sich diese nach der Digitalisierung nicht mehr als rentabel zeigte, eröffnete er ein Reisebüro. Aber auch das war nicht gewinnbringend genug. Also eröffnete er 2005 das „Yok-Yok“.
Der türkische Name, der übersetzt „gibt’s nicht, gibt’s nicht“ bedeutet, ist Programm und laut Alemdar auch ein Grund für die große Beliebtheit. „Wenn der Kunde nach etwas gefragt hat, was ich nicht dahatte, habe ich mir das notiert und das bestellt. Zwei, drei Tage später hatte ich das dann da. Das mache ich heute noch so.“
Nazim Alemdar ist durchschnittlich groß und hat bis auf seinen kleinen Bierbauch eine normale Statur. Seine Hände sehen rau aus, wie Hände die sehr viel arbeiten, die keine Pause kennen. Weit runtergezogen auf der Nase, trägt er eine Brille mit einem unauffälligen Metallgestell, die sein freundliches Gesicht auf den ersten Blick strenger wirken lässt, als es ist. Alemdars deutsch ist nicht perfekt, teilweise verdreht er die Buchstaben oder Worte fallen ihm nicht sofort ein. Trotzdem spricht er sehr bedacht und ich verstehe auf Anhieb, was er meint.
Ein Kunde kommt rein „Merhaba. Ich wünsche dir ein gesundes 2020“, sagt der große, deutsche Mann und reicht dem Yok-Yok Chef die Hand. Alemadar nimmt dankend an „Haben wir uns seitdem noch nicht gesehen?“. Der Umgang ist herzlich und vertraut.
Wofür andere Ladenbesitzer im Alltagsstress nicht die Zeit haben, ist für Alemadar selbstverständlich: „Wenn jemand unseren Laden betritt, gehört er zur Familie.“
Wer einmal kommt, kommt also wieder, frage ich? „Ja, ich glaube schon“, sagt Alemdar und zuckt bescheiden mit den Schultern: „Das ist keine Freundschaft für einen Tag. Wenn wir unsere Kunden begrüßen, machen wir das von Herzen, nicht schleimig oder mit einem Hintergedanken, sondern von Herzen. Wenn ich einen Kunden ein paar Tage nicht sehe, mache ich mir Sorgen, ob er vielleicht krank ist oder ob ihm etwas anderes passiert ist.“
In seinen vierzig Jahren im Frankfurter Bahnhofsviertel hat Alemdar schon viel gehört, erlebt und gesehen. „Ich kannte früher einige, die mittlerweile Drogentote sind. Die ich bereits als junger Mann kennen gelernt habe und dessen Absturz ich dann mit Trauer beobachtet habe. Ich kenne auch ein paar Verrückte, die morgens, mittags und abends durch die Straßen laufen und schreien. Für viele andere, für Fremde, ist das abschreckend, aber für mich ist das eine ganz normale Prozedur. Ich kenne alle diese Menschen und deswegen habe ich auch keine Angst vor ihnen, egal ob die schimpfen oder schreien.“
Der Geschäftsführer erzählt mir von einer Zeit, als Edel-Prostituierte noch die Straßen rauf und runter gelaufen sind. Der ehemalige Inhaber der Schuhmacherei Lenz habe ihm erzählt, dass er damals noch viel Geld daran verdient hat, die Stöckelabsätze der Damenschuhe zu reparieren. „So etwas gibt es heute nicht mehr. Der reiche Geschäftsmann traut sich nicht mehr ins Bahnhofsviertel, der ruft sich lieber ein Callgirl in sein Hotel. Die Zeiten ändern sich eben – aber was sich nie ändert, ist dieser Bahnhofsviertel-Flair“, betont er und wirkt dabei traurig.
Traurig, weil er die alten Zeiten vermisst und Angst um sein Bahnhofsviertel hat. „Seit ich hier bin, haben die schon zweimal versucht, das Bahnhofsviertel zu modernisieren, steril zu machen. Mit Boutiquen und Kettenrestaurants. Aber warum soll ich dann noch ins Bahnhofsviertel gehen, wenn ich dort die gleichen Geschäfte wie in der Innenstadt finde?“ Er schüttelt unbegreiflich den Kopf.
„Wenn die Ladeninhaber die Miete nicht mehr zahlen können, passiert das Gleiche wie damals. Es gab eine Zeit, da waren nur 30 Prozent der Geschäfte in der Münchener Straße besetzt, aber das vergessen die immer.“
Inzwischen hat Nazim Alemdar einen zweiten Kiosk in der Fahrgasse, in Nähe der Frankfurter Innenstadt aufgemacht. „Das ist ein anderes Konzept. Dort ist ein Kiosk mit Kunst. Ein großes Wohnzimmer für Jedermann“. Kunst ist dem Mann mit den türkischen Wurzeln sehr wichtig. Vor allem für die Integration wäre Kunst bedeutend. Auch im Yok-Yok auf der Münchener Straße zeigt Alemdar regelmäßig Kunst und hatte beispielsweise auch schon Werke von dem verstorbenen Frankfurter Künstler Max Weinberg ausgestellt. „Ich biete eine Plattform für Kunst und ich glaube, daran stört sich niemand. Warum sollen die Wände leer bleiben, wenn ich sie auch anderweitig nutzen kann?“
Wenn Alemdar zwischen seinen beiden Yok-Yoks in der Fahrgasse und der Münchener Straße hin- und herpendelt, tut er dies nicht, um das große Geld zu verdienen, sondern aus voller Leidenschaft. Fragt man ihn, was er sich für seine Zukunft wünscht, antwortet er direkt, ohne zu überlegen: „Ich wünsche mir, dass ich bis zu meinem Todestag arbeiten kann.“